Holzschnitt 1510
    
Nikolaus von Flüe
Bruder Klaus  
  
 
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   Das Sachsler Meditationsbild
Speculum Humanæ Salvationis – Ein Spiegel des christlichen Lebens
  
   1. Teil      2. Teil      3. Teil      4. Teil      5. Teil      6. Teil
  

  
2. Teil – Die Suche nach dem gekrönten Haupt

      
Was soll das farbige Bild im Einzelnen darstellen? Die Antwort ist nicht leicht. Es gibt gewissermassen vier Ebenen: 1. Die grundlegenden Ideen des Malers, 2. die Interpretation von Bruder Klaus, dann 3. die seiner Zeitgenossen (Pilgertraktat und Biographie Gundelfingens) und schliesslich 4. die heutigen Deutungsversuche. – Was der Maler wirklich sagen wollte, ist nirgends schriftlich festgehalten worden, es wäre ja auch eher ungewöhnlich. Ebenso wissen wir nicht mit letzter Sicherheit, was Bruder Klaus im Bild sah. Dass die Zeitgenossen, von denen schriftliche Zeugnisse vorliegen, am ehesten recht haben, scheint irgendwie einleuchtend, verschafft uns jedoch noch lange nicht die absolute Gewissheit. Jedenfalls sollte alles vermieden werden, was dem Bild Gewalt antut und es in ein Schema von fixen Ideen hineinpresst. Es darf nicht sein, dass man irgendwelche Privatinterpretationen zum Massstab macht, an den sich alle anderen dann zu halten haben. Herauslesen, nicht hineinlesen, das ist gefragt. Vorrang muss dennoch die Frage haben: Was wollte der Maler mit seinem Bild sagen?
  
Die sechs «Speichen»
  
Das Wort «Speiche» ist bereits eine nachträgliche Interpretation, es ist überhaupt nicht gesagt, dass der Maler daran dachte. Drei «Speichen» sind aussen breit und innen spitz, bei drei weiteren verhält es sich umgekehrt. Die Zahlenstruktur 2 mal 3 scheint auf jeden Fall wichtig zu sein. Das lässt vermuten, dass das Bild etwas über die Dreifaltigkeit Gottes aussagen möchte – es muss ja in der Gesamtstruktur des Bildes ein Sinn liegen. Ob und wie dem so ist, das muss aus den sechs äusseren Medaillons (Rundbildern) zu erschliessen versucht werden. Die Tatsache, dass es zwei Arten von Speichen (bzw. Strahlen) gibt, einmal aussen breit, einmal spitz, lässt auf zwei entgegengesetzte Bewegungen schliessen, nach aussen und nach innen: Gottes Wirken ist nach aussen dreifach, dreifache Zuwendung gegenüber den Menschen und der ganzen Schöpfung. Diese soll antworten mit dem Lobgesang, die ganze Schöpfung, alles, was atmet, soll Gott loben.
  
Die sechs äusseren Medaillons
  
Eine genaue Reihenfolge der Betrachtung scheint vom Maler nicht vorgegeben zu sein, lediglich je zwei sind aufeinander bezogen: Verkündigung an Maria und Geburt Jesu, sowie Gefangennahme und Kreuzigung. Da zwei Rundbilder mit zwei Strahlen (Speichen) verbunden sind, die aussen breit verlaufen, und je einmal Jesus (der Sohn) und den Heiligen Geist beinhalten, scheint es naheliegend zu sein, dass im dritten Medaillon Gottvater dargestellt wird. Die Kaiserkrone (Krone Karl IV.) ist ein häufiges Attribut für Gottvater. Nachfolgend werden zuerst diese drei Medaillons dargestellt und besprochen, dann die übrigen drei und zuletzt das zentrale Rundbild. Die äusseren Medaillons enthalten zudem symbolisch angedeutet Hinweise auf die Werke der Barmherzigkeit.
   
     Rundbild Kreuz Jesus am Kreuz
  
Vor einem grünen, hügeligen Hintergrund erhebt sich das Kreuz. Jesus hängt daran mit geneigtem Haupt, das einen entstellten Gesichtsausdruck hat. Es ist keine eigentliche Dornenkrone sichtbar, bloss eine weisse Kopfbinde. Die Szene ist unblutig, und keine Seitenwunde ist zu sehen. Jesus ist allein, verlassen. Der feingliedrige Körper scheint zu schweben. Das Kleid, um den nach den Passionserzählungen das Los geworfen wurde, wird hier zum Symbol für das barmherzige Werk «Nackte bekleiden»
   
Rundbild Verkündigung Verkündigung der Geburt Jesu
  
Maria kniet neben einem braunen Gebilde, in blauem Kleid und weissem Mantel. Links beugt ein Engel sein rechtes Knie. Er schaut jedoch nicht zu Maria hin, sondern, was eine ikonographische Besonderheit ist, zur in der Mitte herabschwebenden Taube, welche den Heiligen Geist symbolisiert, d.h. er betet den Geist Gottes an, seine Gottheit. Das Bild wurde später übermalt. Eine Fotoaufnahme mit Ultraviolett lässt an der Schulter des Engels zwei mächtige spitze Flügel sichtbar werden, die später durch Übermalung entfernt wurden. Der Engel hält ein Spruchband, das an einem Stab befestigt ist, auf dem Band ist zu lesen: Dominus tecum.
     Vorne rechts ist ein Emblem zu sehen, ein Kreuz und ein Halbmond. Es könnte ein Familienwappen auf einem Sarkophag sein. Dargestellt ist hier wohl kein Lesepult sondern eher ein Altar oder ein Grabmal aus Stein, eine Tumba. Die Szene ist in einen Sakralraum verlegt. Bemerkenswert ist hier die genaue Perspektive.
     Schliesslich liegen unten im Bild zwei gekreuzte Achselkrücken, welche hindeuten auf die Pflicht, gegenüber Kranken barmherzig zu handeln.
   
  Rundbild Schöpfung
       
Holzschnit Schöpfung
  
Holzschnitt Dreifaltigkeit
  
Gottvater als Schöpfer oder
Jesus als Weltenrichter?

  
Da in je in einem Medaillon der Sohn, Jesus (am Kreuz) und der Heilige Geist (Verkündigung) dargestellt werden, ist es naheliegend, dass in diesem Medaillon Gott-Vater dargestellt ist.
     Auf der rechten Seite sitzt eine männliche Gestalt mit Bart, mit weisser Albe und rotem Mantel, in der linken einen Reichsapfel. Die Gestalt trägt die Krone Karls IV. Es sind drei weitere vernunftbegabte Wesen erkennbar, zwei davon haben Flügel. Oben rechts sind Sonne und Mond abgebildet, unten vier Tiere, eine Ziege, ein Hase (?) und zwei Vögel, ferner noch Brot, Fisch und Weinkanne. Letztere symbolisieren das Werk «Hungrige und Dürstende speisen». – Gott im Angesicht der Schöpfung, das scheint hier das Thema zu sein. Gott ist der Schöpfer aller Kreaturen, und die ganze Schöpfung schuldet ihm Anbetung, Lob und Dank. Das sind zwei Bewegungen: von Gott her und zu Gott hin, entsprechend der Struktur des Bildes mit zwei Arten von Strahlen (bzw. Speichen). Wer ist nun die sitzende Gestalt?
     Woher kommt dann die Idee, es müsse sich hier um den Sohn als Weltenrichter (gem. Mt 25) handeln? 1980 erschien von Pfarrer K. H. Zeiss das Bändchen «Gesicht im Goldkreis», er stellte nun diese Behauptung auf, die er auf zwei Argumente abstützen wollte, die beide historisch völlig unhaltbar sind. Pfarrer Zeiss ging davon aus, dass der Holzschnitt im Pilgertraktat älter sei. Das farbige Bild entstand jedoch spätestens 1480, der gedruckte Traktat frühestens 1486 (eher 1487). Dann meinte er noch, weil die Gestalt im Holzschnitt einen Kreuznimbus (Heiligenschein mit Kreuz) trage, könne es sich nur um den Sohn, um Christus den Weltenrichter handeln. Auch dieses Argument ist historisch absolut falsch. Tatsächlich gab es gerade in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts vermehrt Darstellungen, in denen auch Gott-Vater einen Kreuznimbus trägt, man denke allein an den Typus namens «Gnadenstuhl», in dem alle drei göttliche Personen abgebildet werden, z. B. auf einem Reliquiar, das einst Guillaume de Grandson gehörte und sich heute im Musée d'Art et d'Histoire, Freiburg Schweiz befindet. – Ein weiterer Holzschnnitt (links abgebildet) aus dem 15. Jahrhundert zeigt die göttliche Dreifaltigkeit: Gottvater als Himmelskaiser trägt eine Krone, über seinem Haupt schwebt ein Kreuznimbus, genau wie beim Sohn und beim Heiligen Geist.
     Trotzdem könnte es sich im Rundbild um Jesus, den Weltenrichter oder Pantokrator (Allherscher), handeln, «damit im Namen Jesu jedes Knie sich beuge, der Himmlischen und Irdischen und Unterirdischen» (Phil 2,10 – Engel, Menschen und Teufel), wie im Tuch abgebildet, obwohl der Text im PT (Pilger­traktat) hier klar Bezug nimmt zur Schöpfung (Teil 3, Ziffer 13). Doch im Gegensatz zum vorgefassten Konzept des PT is der Inhalt des Tuches nicht zwingend auf die Trinität fixiert.
   
Rundbild Gefangennahme Jesu Gefangennahme Jesu
  
Jesus wird von Judas Ischariot verraten und von drei Häschern gefangen genommen. Petrus schlägt mit dem Schwert dem einen Häscher ein Ohr ab, das Jesus aufnimmt und diesem wieder ansetzt.
     Die Kette rechts unten symbolisiert das barmherzige Werk «Sich um die Gefangenen kümmern».
   
Rundbild geburt Jesu Geburt Jesu
  
Das neugeborene Jesuskind liegt in einem Stall auf dem mit Stroh ausgelegten Boden. Im Hintergrund kniend Ochs und Esel. Maria betet das Kind an, von dem ein heller Licht ausgeht. Diese Anbetung durch Maria soll hier im Bild unterstreichen, dass dieses Kind Gott ist, der Mensch wurde.
      Auch fehlt ein Symbol für die Werke der Barmherzigkeit nicht, diesmal ist es «Fremde beherbergen», angedeutet durch Pilgerstab und Tasche.
   
Rundbild Totenmesse Die Totenmesse
  
Auf einem Marienaltar – Maria trägt in der linken Hand einen Apfel – feiert ein Ordenspriester eine Totenmesse. Hinter ihm kniet ein Messdiener oder Mesner mit einer grossen Kerze. Im Hintergrund an der Wand steht ein Sarg. Dieser deutet symbolisch das letzte Werk der Barmherzigkeit an, nämlich «Tote begraben».
     Der Priester ist offensichtlich kein Dominikaner und auch kein Karthäuser sondern ein Augustiner Chorherr, Augustiner Eremit oder Franziskaner (Barfüsser), denn unter der Albe sieht man den Saum und die Manschetten von einem schwarzen oder dunkelblauen Habit. Die Tonsur verrät aber, dass es sich um einen Ordenspriester handelt.
     Unten wurde ein Wappen aufgemalt, welches das des Stifters sein könnte. Dieser konnte jedoch bis heute nicht ausfindig gemacht werden. Das Wappen enthält eine Burg oder ein Stadttor und oben wäre der Namensschild, dessen Buchstaben jedoch nicht mehr lesbar sind.
   
Rundbild gekröntes Haupt
   
Mit der so genannten «Schreckensvision» hat dieses Medaillon überhaupt nichts zu tun. Oder vielleicht doch? Jene ist eine theatralische Erfindung Heinrich Wölflins und historisch nicht belegt (Quelle 072).
  
An dieser Stelle wurde das Bild durch Übermalungen (es sind mindestens vier) stark verändert. Der Bart war ursprünglich nicht vorhanden und die früheren Ge­sichts­züge wirken weniger asketisch, dafür etwas jugendlicher (vgl. die Röntgen­auf­nahme unten).* Eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Konterfei von Karl dem Kühnen, Herzog und Freigraf von Burgund, Markgraf des Heiligen Römischen Reiches, Herzog von Brabant, Graf von Holland, Hennegau etc., Schwiegervater von Kaiser Maximilian I. (z. B. Gemälde von Rogier van der Weyden) ist nicht völlig von der Hand zu weisen. Ist das Meditationsbild vielleicht ein Beutestück aus den Burgunderkriegen ursprünglich gedacht für einen Feldaltar des Herzogs? Danach Bruder Klaus ge­schenkt, nachdem das Medaillon im Zentrum bereits das erste Mal übermalt wurde und das Antlitz nun einen zwei­teiligen Bart trug?** Die Schlacht bei Grandson, als der Herzog viele materielle Güter verlor, fand im Frühjahr 1476 statt, die Schlacht bei Murten wenige Wochen später. Könnte die Feindschaft zwischen ihm und den Eidgenossen der Grund für die erste Übermalung gewesen sein? Oder gab es einen anderen Grund? Bruder Klaus wurde sehr oft ebenso mit einem zweitei­ligen Bart dargestellt. Was kann das be­deuten? Wurde bei der Übermalung ver­sucht anstelle des Herzogs den Einsiedler darzustellen? Warum?
  
Bei der Entstehung der ersten Versionen des Pilgertraktats (spätestens 1488) war das zentrale Medaillon bereits verändert, das Gesicht trug jetzt einen Bart – in der Augsburger Ausgabe ist er exakt zweitei­lig. – Vor 1488 kopierte mindestens ein Zeichner das veränderte «Tüchli» (als Vor­lage für die beiden Ausgaben des Pilger­traktats). Ebenso wurde wohl noch zu Lebzeiten des Eremiten mindestens eine gemalte Kopie erstellt, welche nach des­sen Tod in der Zelle den Besuchern ge­zeigt wurde.
  
  
Verfremdetes Rundbild
  
       Ausschnitt Nürnberg
  
Röntgenaufnahme 1948
  
• grösseres Bild
Das gekrönte Haupt
  
Die männliche Gestalt trug ursprünglich - was sich mittels einer Röntgenaufnahme nachweisen lässt – keinen Bart. Auf dem Haupt ist eine einfache Krone, die eines Markgrafen oder Herzogs.
     Zwei Quellentexte, die wahrscheinlich auf den gleichen Autor zurückgehen, berichten davon, dass Bruder Klaus das gekrönte Haupt für Gott – die einige Gottheit – gehalten habe. Es ist jedoch nicht der Fall, dass der Maler die Absicht hatte, dies darzustellen. Es könnte sein, dass das Bild für einen Adligen angefertigt wurde und diesem für Andachtsübungen oder sogar als mobiles Altarbild diente – als eine Art «Fürstenspiegel». Das Bild sollte diesem die wesentlichen Punkte des Glaubens und der Moral vor Augen halten. Dann allerdings wäre die zweifache Verschiedenheit der Strahlen so verstehbar: das glaubende Aufnehmen (eingehend) und das dem Glauben ange­messene Handeln des Christen (ausgehend) damit gemeint – eine Deutung in einer weiteren Ebene. Jedenfalls ist seit Augusti­nus die Gottebenbildlichkeit des Menschen in der Theologie wichtig – «Zieht den neuen Menschen an, der nach dem Bild Gottes geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit.» (Eph 4,24) – Im Anschluss an Psalm 3,3 nennt Petrus Lombardus den menschlichen Geist ein Haupt, das von Gott aufgerichtet wird. Wilhelm von Saint-Thierry bezeichnet das Geist-Haupt als Sitz der Gottesliebe, wodurch ihr alle anderen Arten der Liebe unterstellt sind. Liebe = caritas = Barmherzigkeit, das wichtige Nebenthema des Bildes. Wenn nun ausserdem das Herz des glaubenden Menschen ein Tabernakel Gottes ist, dann stimmt auch wieder die andere Aussage: Die Mitte in der Mitte ist in theologischer Sicht immer Gott, bzw. die ungeteilte, dreieinige Gottheit.
     Ob aber der Maler der ersten, authen­tischen Schicht im Zentrum Gott oder vielleicht Jesus darstellen wollte, ist doch sehr fraglich. Ziemlich sicher nicht. Das gekrönte Haupt stellt nicht un­mittelbar Gott dar auch nicht Jesus. Aber der Mensch als Spiegelbild Gottes, ausge­stattet mit Pri­vilegien und Pflichten, das dürfte eher zu­treffen. So der status quo ante. Den spä­te­ren Übermalungen gingen je andere Inten­tionen voraus, was dieses Haupt darzu­stellen habe: um 1477 der dreifaltige Gott (gemäss den Zehn Geboten nicht erlaubt) und später, 1611 vielleicht eher Jesus Christus (?), obwohl da und noch lange von der Dreifaltigkeits­vision die Rede war.
    
  
Wenn wir mit der heutigen digitalen Bild­bearbeitungstechnik am Computer das zentrale Medaillon (jetzige Version) ver­fremden, können wir ein wenig erahnen, was ein Betrachter bei einer vorüber­ge­henden Bewusstseins-Veränderung erleben könnte: eine geheimnisvolle, vielleicht auch etwas erschreckende Erscheinung. Dass nun Bruder Klaus selbst in seinen Träumen Derartiges gesehen haben könnte, ist nicht unbedingt anzunehmen, aber auch nicht auszu­schlies­sen. Ausgangspunkt eines solchen Traumes, wie auch der hier dar­gestellten Verfremdung, ist jedoch auf jeden Fall das real vorliegende Meditations­bild. Hätte also der Eremit diesbe­züglich etwas erlebt, dann wäre jedenfalls das ganze Bild vorher da gewesen, vor der Vision. Wenn jedoch ein Besucher nach dem Tod des Eremiten in der Ranftzelle im Halb­dunkeln eine spätere, schlechte Kopie gese­hen hatte (das Original war nach dem Tod des Einsiedlers nicht mehr dort), dann liesse sich das Aufkommen des Gerüchts über die Schreckensvision erklären, gefördert vor allem durch die drei Bruder-Klaus-Biografen Heinrich Wölflin, Joachim Eichhorn und Petrus Hugo (1636)***. Dem Gerücht sind später namhafte Gelehrte aufgesessen, die Liste reicht vom Reformatoren Martin Luther (Quelle 227) bis zur Tiefenpsychologin Marie-Louise von Franz (Schülerin von Carl Gustav Jung). Das farbige Meditations-Tuch enthält zudem nicht die geringste Spur einer Häresie. Die ganze Hysterie hatte ihren Höhepunkt um 1562 mit dem elsässischen Freiherrn Jakob von Mörsberg (Morimont bei Altkirch). Wo die Gerüchteküche brodelt (vgl. Quelle 247), geht die ganze Ver­wirrung meistens über mehrere Stationen. Eine von den Auslösern der Ver­wirrung könnte auch der Holzschnitt im Pilger­traktat der Nürnbergerausgabe (1488) sein. Was, wenn Wölflin und dann 1503 Charles de Bouelles (Bovillus, Quelle 201) nicht das farbige Bild sondern eben diesen Nürnberger Schnitt gesehen hatten und dementsprechend beim Versuch das Original zu rekonstruieren ihre falschen Schlüsse zogen? Gerade dieses hysterische Ge­schwätz über Schreckens- und Radvision war nicht zuletzt – als Gegenargument – auch schuld daran, dass die Heiligsprechung immer wieder hinausgezögert wurde. 
  
*    vgl. H. Stirnimann, Der Gottesgelehrte
     
 Niklaus von Flüe, Freiburg 1981
     
 (dokimion 7), 218–220
**
 Robert Durrer meinte, dass das Tuch Bruder
     
 Klaus geschenkt wurde (Kunstdenkmäler
    
Unterwaldens, 116f.). Dass Geschenke
     
 an den Einsiedler auch aus den
     
 Burgunderkriegen stammten, erwähnt
     
 1483 Imperiali, der Sonderbotschafter
     
 Mailands (Quelle 033); zweifellos waren es
     
 nicht gerade die wertvollsten Stücke (R.
     
 Durrer, 229, Anm. 25)
***
Rupert Amschwand, Ergänzungsband, 229f.
  
Bild links: Röntgenaufnahme von Dr. med. Eugen Hess in Engelberg, 1947, vor der Re­stau­rierung durch Br. Hermann Keller, Kloster Engel­berg (Amschwand, Anhang XXI) – Nach der Re­staurierung ist die unterste Schicht wegen der hierzu verwendeten Farben mittels Röntgen­strahlen nicht mehr erreichbar. Das Original des Röntgen­bildes verschwand nach 1981 zusammen mit dem Bericht. Es wurde jedoch zweimal in Buchform festgehalten, bei H. Stirnimann und R. Amschwand.
  
Weiterer Vergleich: Röntgenbild – Karl der Kühne
Karl - Rogier van der Wexden  
Bild rechts: Karl der Kühne (Charles le Téméraire), Herzog von Burgund (*1433 in Dijon), Gemälde aus der Schule von Rogier van der Weyden (um 1460, Staatliche Gemäldegalerie Berlin-Dahlem), im Alter von ca. 27 Jahren, mit der Ordenskette des Goldenen Vlies (Ritterorden, 1430 gegründet von seinem Vater Philipp dem Guten). Dazu meint der Historiker Klaus Schelle: Der Blick wirke merkwürdig entrückt, geprägt von einer Art Schwermut aus der Erkenntnis, dass alles Irdische vergänglich ist. – Im Juni 1467 wurde Karl in Brügge Herzog von Burgund zusammen mit den vielen anderen Titeln, vorher hatte er nur den Titel eines Grafen von Charolais – seit April 1465 war er bereits Regent des Burgunder Reiches. Im September 1473 hätte ihn Kaiser Friedrich III. (Vater Erzherzogs Maximilians, des späteren Kaisers, und somit Schwiegervater des einzigen Kindes Karls, Maria von Burgund) beinahe in Trier zum König von Burgund gekrönt, was dann aber kurzfristig nach der politischen Intervention Ludwigs XI. von Frankreich wieder abgesagt wurde. Allerdings war die politische Bühne in Europa weitaus komplexer. Pläne und Mittel Kaiser Friedrichs III. waren schier unberechenbar. Wiederholt mietete er gigantische Armeen aus Frankreich, ein grosses Geschäft für die dortige Krone. Friedrich musste zudem permanent befürchten, dass Karl der Kühne die Mehrheit der Kurfürsten auf seine Seite bringen könnte, die ihn hätten zum Römischen König wählen können. – Der Eidgenosse, der Karl von Jugend an persönlich gut kannte, war Adrian von Bubenberg (* um 1434), der wohl zeitweises am burgundischen Hofe anscheinend als Page (Kamerad für die Erziehung des zukünftigen Herzogs) gedient hatte. Angeblich als Anführer der proburgundischen Partei warnte er entschieden vor einem Bündnis der Berner mit Frankreich und wurde deswegen im Juli 1475 aus dem Rat von Bern ausgestossen, obwohl er vorher noch bei dem Herzog vorstellig wurde, um die vom Elsässer Vogt Hagenbach organisierten Überfälle auf Schweizer Kaufleute abzustellen und sich für den Frieden einzusetzen. Dass Adrian von Bubenberg aber gegen den Krieg war, basierte nicht auf irgendeiner Anhängerschaft sondern auf seiner freien Entscheidung die Meinung von Kaiser Friedrich III. zu applizieren, der gegen den Krieg war, im Gegensatz zu dessen Vetter, Herzog Sigmund. Als aber die gewaltigen Burgunderheere heranrückten, wurde er als Retter in der Not, als Kenner burgundischer Strategien im April 1476 zurückgerufen zur Verteidigung Murtens, wo die Burgunder darauf die Schlacht verloren. Nun, bei dieser Schlacht hatten die Burgunder nicht mehr derart wertvolle Gegenstände dabei wie noch bei der Schlacht von Grandson. Ein Feldaltar mit einem einfachen Bild dürfte aber sicher da gewesen sein. Wem hätte dann das «heilige Kleinod», das zusammenrollbare Altarbild (Meditationsbild), nach dem Sieg zufallen sollen? – Am 27. April 1469 war Adrian von Bubenberg (seine Amtszeit als Schultheiss von Bern endete an Ostern 1469, 2. April) übrigens aus freundschaftlicher Verbundenheit zu Bruder Klaus als schützender Beistand bei der Inquisition des Eremiten im Ranft durch den Konstanzer Weihbischof Thomas Weldner (Quelle 004) anwesend; gleichentags wurde die Kapelle im Ranft eingeweiht. Dass Klaus von Flüe in der Burgunderangelegenheit eine moderate Haltung zeigte und ähnlich dachte wie der Berner Politiker, ist anzunehmen. Was hatte Adrian von B. nun mit der Schenkung des Meditationsbildes an Bruder Klaus zu tun? KopieGab er es sozusagen weiter, von einem Freund zum andern? Wurde der Fürstenspiegel so zum Spiegel des Gottesmannes im Ranft, sogar durch entsprechende Anpassung (Übermalung) des gekrönten Haupts im Zentrum? Zur Zeit der Entstehung des Tuches war Karl der Kühne jedenfalls der mächtigste Mann der damaligen Welt.
  
Auf dem Röntgenbild oben kann man die veränderten Gesichtspartien (dunkle Stellen) recht gut erkennen: Nasenwurzel und Nasenflügel, linkes Auge, Wangen und Mund beidseitig, beide Schläfen sowie die Haare, die vorher kürzer und lockenartig waren – auf der Röntgenaufnahme ist das rechte Ohr klar erkennbar. Etwas verändert worden zu sein scheint auch die Krone; sie dürfte vorher noch einfacher gewesen sein, vielleicht auch nur ein Hut mit Goldgestecken und Edelsteinen**. Zum Burgunder Herzog Karl dem Kühnen passende Elemente: Nase, Augenabstand, Form des rechten Auges samt Lider, leicht vorstehendes Kinn sowie die Grübchen oberhalb des Kiefers. In späteren Darstellungen ist der Mund des Herzogs schmaler abgebildet, so im Portrait eines unbekannten Malers um 1500 (Abbildung links; Lille, Musée de l’Hospice Comtesse). Die Krone mit Hut des Herzogs auf dem Grabmal (Liebfrauenkirche in Brügge, von Jacques Jonghelink) hat eine einfache Struktur, und die Haare sind da stark gewellt, gelockt. Jedenfalls ist das Gesicht in keinem Gemälde gleich wie in den anderen; Untersuchungen nach streng biometrischen Kriterien würden fehlschlagen. – Als Heinrich Stirnimann (Professor für Fundamentaltheologie in Freiburg Schweiz, nicht Historiker) zum Jubiläumsjahr 1981 hin an seiner umfassenden Studie über Meditationsbild und Pilgertraktat arbeitete, spielte er wohl kaum mit dem Gedanken, in der Mitte könnte das Antlitz von Karl dem Kühnen (1433–1477) abgebildet sein. Hätte er sich damit bei jenen unbeliebt gemacht, denen er das Werk widmete, den Kantonen Freiburg, Solothurn sowie Nid- und Obwalden? Vielleicht schon, ist doch der Burgunder Potentat noch heute im Feindbild der Schweizer enthalten. Stattdessen sagte er nur, dass das gekrönte Haupt, eindeutig mit der Krone eines Herzogs und Markgrafen, übermalt wurde und ursprünglich keinen Bart trug sowie jugendlichere Gesichtszüge gehabt hatte. Weiter ging er nicht der Frage nach, wen es darstellen könnte. Es wurden viele Einzelheiten unter die Lupe genommen und ein Heer von Historikern, Kunsthistorikern und Germanisten um ihre Meinung gefragt. Immerhin konnte die Herkunft geografisch eingegrenzt werden auf den Sundgau (Elsass), inklusive Basel (Stirnimann, Der Gottesgelehrte, 166), bis 1477 Untertanengebiet des Herzogs von Burgund (seit 1469 Pfand des hochverscBriefmarkehuldeten Herzogs Sigmund von Österreich – die Bischofsstadt Basel ist Protektorat). Herzog Karl führte da ein strenges Regiment, stellvertretend durch seinen Vogt, Peter von Hagenbach, der oft auch Basel besuchte, bzw. heimsuchte. Diese Herrschaft war im Volk und bei den fremden Kaufleuten alles andere als beliebt, weswegen sich der Kreis der Auftraggeber für das Meditationsbild weitgehend einschränkt. Hatte der Vogt das Meditationstuch vielleicht in Basel in Auftrag gegeben oder die Ausführung vermittelt? Mit Hagenbach näher bekannt war in Basel der Kaufmann und Diplomat Hans Irmi der Jüngere, der den Vogt im Dienste Burgunds 1474 im Prozess in Breisach vergebens vor der Hinrichtung retten wollte. War Irmi vielleicht in die Entstehung des Altartuches involviert? 1474 wurde Hans Irmi übrigens von Herzog Karl von Burgund in den Adelstand erhoben.
  
Bild links: Herzog Karl der Kühne, Ausschnitt einer französischen Briefmarke aus dem Jahre 1969.   • ganze Briefmarke
   
Nehmen wir nun den Kupferstich der Briefmarke (zweifellos nach einem zeitgenössischen Vorbild hergestellt) gleichsam als Phantomzeichnung und vergleichen diese mit unserem gekrönten Haupt in der bartlosen Ur-Version (Röntgenaufnahme), dann sehen wir dies: Augen, Nase, Mund, Kinn und Gesichtsform passen. Die typischen Grübchen unter dem Jochbein (über dem Kiefer), wie sie auf anderen Abbildungen Karls zu finden sind, sind auf der Briefmarke nicht sichtbar, wohl aber im Meditationstuch. Völlig sicher ist nun: Der Gedanke, im gekrönten Haupt im Zentrum sei mit Absicht Gott dargestellt worden, ist überhaupt nicht historisch sondern vielmehr hysterisch. Stattdessen wird ein herausragender Potentat der damaligen Zeit abgebildet. Doch allein schon die Nase passt überhaupt nicht zu König Ludwig XI. von Frankreich (auch genannt: L’Araignée Universelle, die «universelle Spinne») und ebenso wenig zu Kaiser Friedrich III., auch die Habsburger Sigmund und Maximilian fallen ausser Betracht. Übrig bleiben kann bei einer solchen Falsifikation nur noch Karl der Kühne, der Urgrossvater Kaiser Karls V., der seinerseits herausfordernd auch den Titel «Herzog von Burgund» trug, wie bereits sein Vater, Philipp der Schöne (1478–1506, seit 1504 auch König von Spanien, bzw. Kastilien). Von diesem Enkel Karls des Kühnen wiederum gibt es im Vergleich zu unserem Thema Bemerkenswertes zu berichten: Philipp - Gerard DavidEr lieh Meistern der Malerei in Brügge und Gent, etwa Gerard David, sein Gesicht für religiöse Gemälde, als Erzengel Gabriel, als Hl. Georg und schliesslich, um 1506, auch als Gottvater, gekrönt mit einer Tiara (dreifache Krone). Nur sieht dieses «Gottesantlitz» gar nicht Schrecken erregend aus. In der Kunst ist alles möglich. Wem aber die Gabe der Unterscheidung fehlt, kann die Grenze zur Wirklichkeit nicht sehen, was leicht zur paranoiden Hysterie führt. Das konnte Carolus Bovillus (Charles de Bouelles) als treuer Untertan Frankreichs nicht schlucken, für ihn ist das entsetzlich, der Erzfeind als Gottvater, kein Wunder also, wenn er 1510 in seiner nicht mehr ganz realistischen Erinnerung das Haupt im Meditationsbild mit einer Tiara gekrönt sieht (Quelle 201), wo ja ursprünglich dessen Grossvater Karl abgebildet war. Die zornerfüllte, irrtümliche Assoziation bezieht sich demnach bei Bovillus nicht auf das Papsttum sondern auf das Haus Habsburg-Burgund.
  
Bild rechts: Der flämische Meister Gerard David (um 1460–1523, seit 1500 in Brügge tätig) gibt um 1506 Gottvater das Antlitz von Philipp dem Schönen, Herzog von Burgund, König Philipp I. von Kastilien, Enkel von Karl dem Kühnen, flankiert von seinen beiden Söhnen und späteren Kaisern Karl V. und Ferdinand I. in Engelsgestalt.
• ganzes Bild
  
Um die Verwirrung noch vollständig zu machen: Karl der Kühne wurde von unbekannten Künstlern auch als Christus dargestellt, etwa als dornengekrönter Schmerzensmann samt seinen Eltern, seiner Ehefrau und seiner Tochter Maria. Hier trägt die Hauptfigur allerdings einen Bart. Da aber das Haupt im Meditationstuch ursprünglich (in der Erstversion) bartlos war und offensichtlich die Gesichtszüge des Burgunders aufweist, wurde der Herzog nicht als Christus dargestellt sondern als er selbst, als Mensch, bestenfalls jedoch im biblisch-theologischen Sinne als Ebenbild Gottes, als Spiegel Gottes. Die Tochter, Maria von Burgund (Tochter der Isabelle de Bourbon), galt damals übrigens als Inbegriff einer schönen Frau, kein Wunder wurde sie mit ihrem Söhnchen Philipp dem Schönen oder dem Töchterchen Margarete von Österreich bisweilen von Malern als Modell für die Madonna mit Jesuskind genommen.
• Bild: Herzog Karl als Schmerzensmann            • Bild: Maria mit Kind
  
Die Geschichte geht weiter, in einer langen Kette von Nachfahren Karls des Kühnen finden wir schliesslich Kaiser Karl I. von Österreich (1887–1922, König von Jerusalem, Böhmen und Ungarn, Graf von Habsburg, Kyburg etc.), der 2004 von Papst Johannes Paul II. mit der Seligsprechung gekrönt wurde. Sein Leichnahm befindet sicht in Funchal auf Madeira, das Herz aber wurde zusammen mit dem seiner Gattin Zita in der Loreto-Kapelle im ehemaligen Kloster Muri im Aargau beigesetzt. Gedenktag: 21. Oktober.
  
Das Meditationstuch war ursprünglich ein «Spiegel» (Speculum Humanæ Salvationis, Spiegel des Menschlichen Heils) für Karl den Kühnen, dann erst wurde es frühestens 1479 (beim Besuch Albrechts von Bonstetten am Silvestertag 1478 war es noch nicht im Ranft), spätestens 1480 zum «Spiegel» für Bruder Klaus, zu seinem «Buch» worin er lernte. Warum aber wurde das Gesicht in der Mitte übermalt, bevor es dem Einsiedler im Ranft geschenkt wurde? Wer bessass das Tuch zwischenzeitlich vor Bruder Klaus?
  
Ein seinerzeit berühmter Heilspiegel-Altar wurde um 1435 von Konrad Witz in Basel gemalt, aber nicht bei den Dominikanern (Predigern) sondern bei den Augustiner Chorherren von St. Leonhard (Leinwand auf Eichenholz). Einzelne Teile davon befinden sich heute im Basler Kunstmuseum; andere befinden sich in Berlin und Dijon. Das Meditationstuch wurde dem Zweck nach als «Heilspiegel» konzipiert, wie bereits gesagt, sehr wahrscheinlich als tragbares Altar- bzw. Andachtsbild, und dieses hatte dann den Altar in der Leonhardskirche von der Gesamtidee her zum Vorbild. Für die Mobilität des Bildes spricht auch die Tatsache, dass die verwendeten dünneren Temperafarben (Bindemittel: Wasser und Leim) ein Zusammenrollen der Leinwand ermöglichen, Ölfarben dagegen eher nicht. Es dürfte sogar zutreffen, dass Schüler von Konrad Witz hier an der Arbeit waren.
  
Die Krönung
  
Im Sachsler Meditations-Tuch hatte also das Haupt im zentralen Medaillon vor der ersten Übermalung (spätestens 1480) eher jugendliche Gesichtszüge und trug keinen Bart, aber die einfache Krone eines Markgrafen oder Herzogs. Wenn dieses gekrönte Haupt nicht Gott, nicht Christus darstellt, wen dann? – Es ist überhaupt nicht abwegig zu sagen, dass es nach der ersten Übermalung Bruder Klaus mit seinen typischen Merkmalen darstellt: hagere Gesichtszüge, zweiteiliger Bart, strähniges Haar. Der Mensch als Ebenbild Gottes (Gen 1,27 – als Spiegel Gottes) ist die Krönung der Schöpfung. Der Eremit Klaus von Flüe war es in seiner ausserordentlichen Gottverbundenheit und der intensiven Begegnung mit Gott in seinem Innern noch in höherer Weise. Ist nun in der Bruder-Klausen-Literatur irgendwo von einer «Krönung» die Rede? Ja, sogar mehrmals: Wahlspruch im «Betbüchlein der ewigen Weisheit» (1518 gedruckt in Basel durch Jakob von Pfortzheim, zudem in einer Aufzeichnung des Basler Chronisten Berlinger, Quelle 217). Eine spätere gleichlautende Fassung finden wir in der Biografie von Ulrich Witwyler (um 1571, Quelle 262), hier heisst es im Anschluss an die Reimsprüche:

O Mensch, glaub’ in Gott kräftiglich, denn
in dem Glauben steht die Hoffnung,
in der Hoffnung steht die Liebe,
in der Liebe steht die Empfindung,
in der Empfindung steht die Überwindung,
in der Überwindung steht die Belohnung,
in der Belohnung steht die Krönung,
in der Krönung stehen die ewigen Ding’
die man jetzt wiegt gar ring.

   

Bei heutiger Betrachtungsweise mutet das ganze Tuch an wie ein christliches Mind Mapping. Man kann damit in einfacher «Selbstorganisation» sich meditativ in den Glauben und in die Ethik vertiefen. Die Gedanken fliessen geordnet und lassen sich in Verästelungen anschaulich und einprägsam darstellen. Das Glaubensgut geht in unser Inneres hinein, das ethisch verantwortbare Handeln geht aus unserm Innern heraus, als Reaktion auf das Geschenk des Glaubens (• Grafik öffnen).
  
Es wird den Betrachtern ein Spiegel des menschlichen Heils * vor die Augen gehalten, diese Betrachter sind chronologisch der Reihe nach:
· Herzog und Markgraf Karl der Kühne – «Fürstenspiegel»
· Bruder Klaus, der Gottesmann im Ranft – sein «Buch», seine Bibel, Armenbibel
· Wir heute
  
* Der Zusammenhang zwischen dem Meditationstuch und dem «Speculum Humanæ Salvationis» (Spiegel des menschlichen Heils), auch «Heilspiegel» genannt, wurde bereits 1981 in meiner Doktorarbeit erwähnt (Der göttliche Spiegel, 57–59; 167–168). Doch von der Legende des «Rades», in der die längste Zeit permanent «das Pferd vom Schwanz her aufgezäumt» wurde, müssen wir uns jetzt endgültig verabschieden. Das «Rad» gab es nie wirklich. Und ein Visionsbild war es auch nie. Die Röntgenaufnahme von 1947 durchbricht hier die schlechte Gewohnheit, Ursache und Wirkung zu verwechseln. Hypothesen können eben nicht einander beweisen. Und literarische Fiktionen haben wohl einen künstlerischen und hier auch spirituellen Wert sind aber in historischer Hinsicht nicht als zuverlässig anzusehen. Stirnimann schrieb noch 1981 beim Betrachten der Röntgenaufnahme (S. 218): «Das Gesicht scheint bartlos zu sein …». Bei dieser Formulierung wird bereits eine phobische Tendenz des Verdrängens sichtbar: Es kann nicht sein, was gemäss vorgefasster Hypothese nicht sein darf. Dann schaut auch der Professor für Fundamentaltheologie lieber weg, sieht vom «fundamentalen» Antlitz ab. Das offensichtlich vorgefasste Konzept seiner Studie wäre in Frage gestellt worden. Stirnimann hat zudem versprochen, dass er später in der Bildanalyse, darauf eingehen würde, welches «Modell» dahinterstünde (S. 168). Dieses Versprechen hat er dann aber nicht gehalten. Doch immerhin verdankt es die Nachwelt ihm, dass er die Röntgenaufnahme der Öffentlichkeit zugänglich machte und sie dabei ein «bedeutsames Dokument» nannte (S. 218). – Übrigens: Bei der Restauration von 1947 in Engelberg wurde ein schriftlicher Bericht angefertigt, der sich eigentlich im Pfarrarchiv (Kirchgemeinde) Sachseln befinden sollte. Das ist jedoch nicht der Fall. Bereits bei seiner Arbeit am Ergänzungsband zum Quellenwerk konnte ihn Pater Rupert Amschwand nicht mehr an Ort und Stelle finden (Sarnen 1987, S. 231, Anm. 11). Der Bericht wurde nicht mehr an den Archivplatz in Sachseln zurückgebracht. Das Orignal der Röntgenaufnahme ist ebenso verschwunden, befindet sich aber als positive Abdrucke in den beiden Büchern: 1488 von H. Stirnimann (S. 219) und etwas später im Ergänzungsband von 1487 von R. Amschwand (Tafel XXI). In beiden Prints haben die Abbildungen die gleichen Masse, es wurde beide Male das gleiche Druckmaterial (gerasterte Reproduktion) verwendet. – Wer aber hat das Verschwinden verursacht? Wie konnte das geschehen? Fahrlässig oder absichtlich? Wollte vielleicht jemand eine Wahrheit unterdrücken? Wenn Letzteres zuträfe, dann wäre eine Geschichtsfälschung versucht worden.
  
** Karl der Kühne trug bevorzugt Hüte mit Edelsteinen besetzt. Einer der berühmtesten Diamanten in seinem Besitz war der so genannte «Florentiner» (oder: «Le Toscain»), den der Herzog in der Schlacht von Grandson mitführte und verlor: gelbliche Farbe, 139.5 Karat, in Gold gefasst und von Perlen umgeben. Ein Knecht aus Zug fand ihn auf dem Schlachtfeld, warf ihn aber gleich wieder weg, kehrte dann jedoch um, las ihn nochmals auf und verkaufte ihn einem Fusssoldaten für einen Gulden. Dieser lieferte ihn seinem Kommandanten ab und erhielt dafür 3 Franc. Später wurde der Diamant bei der Schätzung der Beute auf 20'000 Gulden geschätzt, aber ihn um diesen hohen Preis zu verkaufen, erwies sich als recht schwierig. Auf einigen Umwegen gelangt er schliesslich zu Papst Julius II. (1503–1513, Giuliano della Rovere, 1472–1476 Bischof von Lausanne), für 20'000 Dukaten. Sein Nachfolger, Leo X., verleibt ihn dem Familienbesitz der Medici in Florenz ein – davon der Name «Der Florentiner» – die bald zum Rang von Grossherzögen der Toskana emporstiegen. Kaiser Franz I. aus dem Hause Lothringen-Toskana brachte ihn bei seiner Heirat mit der Habsburger Erbin Maria Theresia nach Wien. Der Diamant blieb lange in der kaiserlichen Schatzkammer, bis 1918. Der letzte österreichische Kaiser, Karl (ein Nachfahre des Burgunder Herzogs), nahm ihn mit ins Exil in der Schweiz und auf Madeira. 1921 wurde er im Hotel Victoria in Funchal gestohlen. 1929 soll er verkauft worden sein. 1955 soll er schliesslich nach Amerika gelangt sein. Wo er sich heute befindet, ist unbekannt. – Der nach der Schlacht gefundene Hut Karls des Kühnen war mit Saphiren, Diamanten, Rubinen und Perlen besetzt, er gelangte zu den Fuggern, die den Hut auseinandernahmen, um die Edelsteine einzeln zu verkaufen. Weitere bedeutende Kleinode kamen unrechtmässig nach Basel, wo sie am 16. September 1504 unter Verschleierung durch Treuhänder an die Fugger verkauft wurden. Auch die Ordenskette vom Goldenen Vlies verschwand auf unklärbare Weise. «Die einfältige gemeine Schweitzer, die sich besser auf Kühe als Kleinodien verstunden, die köstlichste Perlen und Edelsteine um ein Spottgeld verkaufeten», heisst es im «Spiegel der Ehren» von J. J. Fugger (Nürnberg 1668).

   • Im 3. Teil werden die Beschreibungen des Rades aus dem um 1487 gedruckten Pilgertraktat und aus der biographische Handschrift von Heinrich Gundelfingen, datiert mit 13. August 1488, einander synoptisch gegenübergestellt, so dass durch die auffälligen Gemeinsamkeiten ein Hinweis auf den Verfasser des anonymen Pilgertraktats hervortritt.
• Im 5. Teil wird nach der Inspiration gefragt: Alltagsgegenstand, Symbol und Emblem
• Im 6. Teil werden die Evangelistensymbole analysiert und die Entstehung erörtert
   
Autor: Werner T. Huber, Dr. theol.        © 1981–2024
  
Weiterer Vergleich: Röntgenbild – Karl der Kühne
  
Studie «Das Sachsler Meditationstuch» als Druckversion (PDF)
  
                        "              als Mind Mapping der Devotio Moderna (PDF)
  
Das «Rad» und sein verborgener Sinn
  
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