Holzschnitt 1510
    
Nikolaus von Flüe
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   Quellen - Bruder Klausund Dorothea
  
  
Briefwechsel zwischen Bovillus und Horius
  
Quelle Nr. 201

  

  
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Zeit: 1503 (1510)
  
Herkunft: a) Caroli Bovilli Samarobrini Philosophice ... Gesamtausgabe der Opuscula ... ex officina Henrici Stephani ... Anno Christi Salvatoris omnium 1510 ... Primo Cal. Februarii [1. Februar 1510, nach der Zeitrechnung Frankreichs, Jahresbeginn 1511 erst an Ostern] Parisii, Seite 173b bis 174; – b) Caroli Bovilli Commentarius in primordiale evangelium divi Joanniis - Vita Remundi eremitae ... Paris 1513, Folio 62b-64; – c) Carolus Bovillus, Philosophicae et historicae aliquot epistolae, Paris 1511, fol 17v (Bibl. National Paris, Rés. Z 1477)
  
Kommentar: Carolus Bovillus, alias Charles de Bouelles, besuchte offensichtlich 1503 den Ranft, 16 Jahre nach dem Tod des Eremiten. Vieles über Bruder Klaus konnte er nur aus der dortigen mündlichen Überlieferung erfahren. Diese Informationen kombinierte er mit den eigenen Eindrücken vor Ort. Das farbige Meditationsbild [Rad, Radbild] (siehe Beitrag: Das Sachsler Meditationsbild; vgl. auch Pilgertraktat: Quelle 048) befand sich bereits nicht mehr in der Zelle im Ranft, Bovillus konnte es also dort nicht sehen, es hängte dort nur eine schlechte Kopie davon. Hingegen sah er irgendwann den Holzschnitt im Pilgertraktat, wahrscheinlich in einer der Nürnberger Ausgaben. Dass nun das Bild im Zusammenhang mit einer Vision [Schreckensvision] entstanden sei, ist Bovillus eigene Erfindung. Dem ist so, auch wenn Wölflin in seiner Biographie (Quelle 072) in seinem eigenen Hang zur dramatischen Ausschmückung den historischen Tatsachen etwas hinzufügt, das zu Missverständnissen Anlass geben kann: Bruder Klaus habe einst ein von starkem Licht umgebenes Antlitz gesehen, wodurch er so sehr erschrocken sei, als ob sein Herz in tausend Stücke zerbrochen wäre. Wöflin brachte die Gerüchteküche derart heftig zum Brodeln, wie es bis heute noch nicht aufgehört hat. Die ursprüngliche einfache Lilienkrone des Meditationsbildes verwandelt sich im Gedächtnis des Bovillus plötzlich zu einer dreifachen Papstkrone, und die Bedeutung der sechs Rad-Speichen, die jetzt Schwerter sein sollen, geht ihm völlig ab. Das Ganze ist nicht nur absurd sondern auch völlig unhistorisch, hat mit Bruder Klaus rein gar nichts mehr zu tun. – Die Korrespondenz gleitet nun etwas ab auf das Gleis der Irrungen und Verwirrungen. Der Freund Horius setzte dieser «Erscheinung», ohne das echte und das kopierte Meditationsbild gesehen zu haben, noch seine Auslegung hinzu, und das Antlitz ist jetzt plötzlich das des Antichrist, personifiziert im allerdings recht verweltlichten Papsttum der Renaissancezeit. Kein Wunder, wenn dann später Martin Luther (Quelle 227) bei der Lektüre der Auslegung durch Horius noch weitergeht und seine vernichtende Kritik am Papsttum noch mehr bestärkt sieht. Im übrigen war Luther keineswegs ein Gegner von Bruder Klaus, im Gegenteil er schätzte vor allem dessen «Gewöhnliche Gebet» (Quelle 067) sehr. In der Wirkungsgeschichte des lutherischen Traktats befindet sich dann noch der Wittenberger Professor Matthias Flacius Illyricus (Quelle 243). – Die Nahrungslosigkeit war jedoch das Hauptthema in allem Reden über Bruder Klaus, auch bei Carolus Bovillus. Er, der selber im Ranft war, ist davon sehr beeindruckt, von dem was ihm die Leute dort erzählten - es stimmt übrigens weitgehend überein mit der Schilderung durch Albrecht von Bonstetten (Quelle 015) und mit den Eintragungen des venezianischen Dogen Fregoso (Quelle 070), der als seine Quelle wiederum Albrecht von Bonstetten hatte, aber auch einen seiner Gesandten, Alberto Cavallazzo della Bancha, der 1479 den Eremiten im Ranft besuchte. – Bovillus war selber im Ranft, darüber besteht kein Zweifel. Und er war nicht allein dort, sondern in Begleitung seines ehemaligen Studienkollegen aus Paris, der zu dieser Zeit Abt in Engelberg war: Barnabas Bürki. Erst sieben Jahre später, am 3. Juli 1510, schreibt Bovillus diesem einen Brief (Text c).
  
Der Brief Bouelles wurde erst 1510 geschrieben. In der Zwischenzeit ereignete sich für den treu ergebenen Franzosen wirklich etwas Schreckliches: Der Erzfeind Frankreichs, der Herzog von Burgund – jetzt Philipp der Schöne (1478–1506), Enkel von Karl dem Kühnen – stand oft den Malern als Modell zur Verfügung; so wird denn auch sein Gesicht in einem Gemälde um 1506 als Gottvater mit einer Tiara dargestellt (siehe unten). Da verstand Bovillus wohl die Welt nicht mehr und brachte darum Manches durcheinander. Doch die zornerfüllte, irrtümliche Assoziation bezieht sich bei Bovillus nicht auf das Papsttum sondern auf das Haus Habsburg-Burgund.
  
Referenz: a) und b) Robert Durrer, Bruder Klaus-Quellenwerk, 559–569 – c) Rupert Amschwand, Ergänzungsband, 201

  

   a)
  
Carolus Bovillus dem Nikolaus Horius, dem erwählten Ratsherr zu Reims, Gruss.
  
Du schreibst mir, hochgelehrter Mann, Du haltest dafür, dass in fünfhundert Jahren nichts geschehen war, das dem vergleichbar ist, was Dir mein Brief von den zwei Streitern Christi und Verkündern des Gotteswortes erzählte. Weil ich nun begonnen habe, will ich weiter gehen und Dir eröffnen, was ich von einem andern heiligen und bewundernswerten Einsiedler, einem Zeitgenossen, teils selber Gesehen, teils gehört habe. Er ruht nun schon zwanzig Jahre in Gottes Frieden. Sein Name war Nikolaus von Flüe, von Nation war er ein Deutscher und ein Helvetier. Die Helvetier sind nämlich die Oberdeutschen (die wir jetzt gemeinlich Schweizer nennen) in den Alpengegenden. Ich bin im Jahre 1503 dort durchgereist, und als ich von den Tugenden des schon verstorbenen Einsiedlers hörte, wurde ich von Neugier erfasst und begab mich unverzüglich in dessen Einöde. Sein ältester Sohn [Hans von Flüe] bot mir Gastfreundschaft. Er zeigte mir das Kleid [Rock, Kutte, Habit] seines Vaters. Andern Tages gingen wir zur Zelle des Vaters, in der dieser zweiundzwanzig Jahre (bis zu seinem Tode) ohne materielle Speise und Trank gelebt hatte. Er lehrte uns schwache Sterbliche, dass der heilige, göttliche Ausspruch wahr ist: «Nicht vom Brote allein lebt der Mensch, sondern von jedem Worte, das aus dem Munde Gottes kommt.» (Dtn 8,3; Mt 4,4) Die schweizerischen Obrigkeiten, geistliche und weltliche, besetzten [stellten Wachen auf] häufig und durch viele Jahre hindurch die Wege und Zugänge, die zu seiner Einsamkeit führten, um zu erfahren, ob jemand ihm heimlich Essen bringe.
  
Man fand (was auch die Wahrheit war), dass der Mann, durch göttliche Hilfe übermenschlich geworden, die menschliche Natur überwunden, in dieser Welt den Engeln gleich geworden, und obwohl noch vom Fleische bekleidet, der Notdurft des Fleisches nicht mehr unterworfen und preisgegeben war. Er leuchtete (wie man sagt und wie ich in seinen Akten gelesen habe) bei Lebzeiten und nach dem Hinscheid durch Wunder. Ich will ein Gesicht [Vision] berichten, das ihm einst in sternheller Nacht, da er dem Gebete und der Betrachtung oblag, am Himmel erschien. Er sah das Bild eines menschlichen Hauptes, mit fürchterlichem, von Zorn und Drohung erfülltem Ausdruck. Es trug eine dreifache oder päpstliche Krone, in deren Mittelpunkt oder Spitze eine kleine Weltkugel eingelassen war; auf dieser Kugel war ein Kreuz befestigt. Ein dreigeteilter Bart hing ihm lang herunter. Sechs Schwertklingen ohne Handgriff schienen in wechselnder Richtung aus dem Angesicht auszugehen. Die eine ging mitten aus der Stirn nach aufwärts, mit dem breitenTeil in der Stirn haftend und mit der Spitze die Kugel oder das Kreuz der Krone durchdringend. Andere zwei gingen von den beiden Augen aus, die Spitzen in den Augen behaltend, während der breitere Teil auswärts ragte. Zwei zucken aus der Nase hervor, mit dem breitern Teil in den Nasenlöchern. Die sechste streckte die Breite nach auswärts und steckte mit der Spitze im Munde. Diese Schwerter schienen alle gleich. Diese Vision liess er in seiner Zelle malen, ich habe es gesehen und im Gemüte erfasst und in mein Gedächtnis eingezeichnet. Da mir wahrhaftig die Bedeutung verborgen geblieben (wiewohl es durch seine Schreckbarkeit zu verstehen gibt, dass nicht leichte Donnerschläge die Menschheit bedrohen), so kannst Du vielleicht besser deuten, was es sei und was Gott damit will und mich durch Deinen Brief beruhigen, indem Du mich über die Bedeutung dieser grossen Sache aufklärst. Wenn Dich aber die Ungewohnheit und Schwierigkeit belästigt, so schreibe mir irgendwie, damit ich selber Dir brieflich eröffnen kann, was ich über diese Vision denke. Lebe wohl. Aus unserm Sancourt, am Vorabend des heiligen Laurentius (9. August) 1508.
     
Nikolaus Horius [an] Karl Bovillus Gruss.
  
Dein Schreiben, das mir der ehrsame und den Deinen befreundete Mann überbrachte, war mir willkommen und teuer. Du hast mir da durch Deine grosse Anhänglichkeit bewiesen; wenn ich an Deiner Liebe hätte zweifeln können, hättest Du mich dadurch unverzüglich belehrt. Was aber Deine Bitte betrifft, die Vision jenes absonderlichen Eremiten, der nach zweiundzwanzigjährigem heiligem Einsiedlerleben in die Herrlichkeit des Himmels aufgefahren ist, auszulegen, kann ich Dir nicht versprechen, es so zu tun, das ich den besten und wirklichsten Sinn Dir enthülle. Denn dies kann keiner, ohne dass jener höchste Geist ihn mit solcher Gabe begnade. Ich wiil meine Ansicht Dir in Kürze darlegen. Ich glaube, diese Erscheinung (die der selige Mann am dunken Nachthimmel erblickte, als er in seiner Einsamkeit dem Gebete oblag) ist so auszulegen, dass wir aus dem menschlichen Haupte (das eine dreifache päpstliche Krone trug) vermuten dürfen, es bedeute einen höchsten geistlichen Gewalthaber. Dadurch, dass das Angesicht dieses Hauptes rotglühend war und Drohung und Wut enthüllte, wird genugsam dessen künftige Grausamkeit gezeigt. Was frägst Du weiter? Willst Du, dass ich auch das Übrige beleuchte? Das Schwert, dessen Breite in der Stirne steckte und seine Spitze gegen das heilige Kreuz kehrte, zeigte, dass jener ein Feind Christi sein wird. Das Schwert aber, das mit der Spitze das eine Auge nicht nur berührte, sondern blendete, versinnbildete, dass er in die Finsternis des Geizes falle. Die Klinge, deren scharfe Spitze das andere Auge durchstach und zu vernichten drohte, zeigt seine ungeheure Unkeuschheit. Aber die beiden Schwerter, deren Breite nach innen ging und die die Nasenlöcher verstopften, zeigten, dass er ein Mensch sein wird, der keine Lust an himmlischen Wohlgerüchen empfindet, denn ihn wird seine Unmenschlichkeit (die durch die Schwerter ausgedrückt wird) daran hindern. Die letzte Klinge aber, die mit ihrer scharfen Spitze die Lippen zusammenheftete, charakterisierte ihn ganz besonders und bedeutete eine so grosse Faulheit, dass er das Wort Gottes seinem Volke nicht verkünden wird. Das Fehlen der Schwertgriffe wies darauf hin, dass, wer solche Schwerter aus dem Antlitz des Bruders zu enffernen versuchen wollte, seine Hand verwunden muss, und dass, wer ihn selbst zu berühren wagte, allsogleich durch diesen schrecklichen greulichen Fürsbn gestraft wird. Sein Bart aber war dreifach, lang und rauh; daraus ist zu schliessen, er werde die kommende Ursache des Unglückes sein, in die das ganze Volk versetzt wird. Denn wenn er gleich strenge verpflichtet war, alle zurechtzuweisen, so erlaubte er doch oft, das Gesetz Gottes zu übertreten. Dies ist meine Meinung, die Du zu wissen verlangt hast, und die ich, aus Zuneigung zu Dir, Dir zuschicke. Lebe wohl. Aus der Stadt Reims, am fünften Tage vor den Kalenden des September (28. August) 1508.
     
Nikolaus Horius dem Carolus Bovillus Gruss.
  
Schon lange erwarte ich einen Brief von Dir, dessen Ankunft mir grosse Freude bereiten wird. Ich kenne nämlich sowohl die Schärfe Deines Geistes, als die Grösse Deiner Liebe und die Klangfülle Deines Ausdrucks. Ich habe nicht nur die Vision (an die Du Dich erinnern wirst) als Ausleger erklärt, sondern diese Auslegung auch eiligst nieder geschrieben und an Dich übersenden lassen. Denn ich wollte Dir, zu dem ich, aus vielen Ursachen, grosse Liebe hege, enhprechen. Ich weiss nun, mein Bovillus, gar nicht, warum Du mir nicht antwortest, obgleich Du mir, wenn ich Dir meine Meinung über die Vision mitteilen würde, versprochen hast, Deiner Pflicht, zu schreiben, nachzuleben, statt dies zu vernachlässigen. Vielleicht hat Dir niemand meinen Brief zugestellt, oder bist Du in schwere Krankheit gefallen, die Dich selber am Schreiben hindert? Was es auch sonst sein möge, ich bitte Dich in ständigst, dass Du baldigst meinem lästigen Warten ein Ende machest und mein heisses Sehnen wirksamst erfüllest. Leb wohl.
      
Carolus Bovillus dem Nikolaus Horius Gruss.
  
Dein Brief ist mir zugekommen, in dem Du mir die gewünschte Bedeutung der himmlischen Erscheinung des Einsiedlers so scharfsinnig und folgerichtig zergliedert hast. Ich erinnere mich aber, in einem ersten Briefe eines gewissen Venezianers Erwähnung getan zu haben, der seine Reichtümer von sich geworfen und die Welt verachtet hat und nun zu Rom, in elende Fetzen gehüllt, das Wort Gottes öffentlich verbreitet und predigt, in dem er voller Ernst behauptet, dass alle verdammt werden, die nicht Busse tun [der Eremit Hieronymus von Bergamo trat 1508 in Florenz auf, er predigte dort in der Kirche S. Spirito, Italien werde zerissen werden ...]. Viele bekehrt er und treibt sie ins Kloster. Aus dem Stegreif singt er, wie man berichtet, die herrlichsten Hymnen. Ich schicke Dir hier, als meinem geliebtesten Freund und Pfleger religiösen Geistes, zwei dieser Gesänge, und mache Dich zum Teilhaber meiner Neuheiten und Kostbarkeiten. Du magst daraus den Zustand jenes Mannes erkennen und ob er aus heiligem oder anderm Geiste wirkt. Ich glaube mehr an heiligen Antrieb, denn jene beiden Hymnen scheinen mir prophetisch. Sie deuten nämlich gewisse Geheimnisse, die in der hl. Schrift mystisch vorhergesagt werden. Diese Hymnen hat mir Jakob Faber Stapulensis [ 1450–1536, berühmter Philosoph und Theologe, Epigone von Nikolaus von Kues] geschickt, der sie aus Rom erhalten hat. Dieser lässt Dich vielmal grüssen; ich hatte ihn bereits in Deinem Namen gegrüsst. Schreibe mir wieder, was Du von diesem Manne haltest, und gib mir dadurch Gelegen heit zu weiterm Briefwechsel. Leb wohl. Aus Sancourt an den Kalenden des Oktober (1. Oktober) 1508.
  
     
b) Carolus Bovillus, dem gelehrten Manne Nikolaus Grambusius, Professor der Theologie, vielmals Gruss.
  
Ich bin von Dir, liebenswürdigster Nikolaus, gefragt worden, ob einer Deiner Namensvettern, d.h. ein Nikolaus, der jüngst berühmt gewesen ist, würdig sei in die Versammlung der Heiligen aufgenommen zu werden. Ich komme Deinem Wunsche entsprechend meinen Möglichkeiten mit diesem Briefe nach. Vor kurzem lebte bei den Helvetiern (die man gewöhnlich Schweizer nennt), ein Mann weltlichen Standes, Nikolaus von Flüe geheissen. Nachdem dieser den grössten Teil seines Lebens in der Welt gelebt und mit Frau und Kindern zugebracht hatte, begann er eines Tages, wahrscheinlich auf Antrieb göttlichen Willens, über dieses irdische Dasein Ekel zu empfinden. Er wurde von einer unwiderstehlicher Sehnsucht nach Einsamkeit erfasst, um durch späte, aber heilsame Busse die Makel der Vergangenheit abzuwaschen und sich künftig mit der göttlichen Liebe ganz zu vereinigen. Damit das Fünklein heiliger Glut, das er in Herz und Gemüt empfangen, nicht über feigem Zögern und törichtem Aufschub erlöscht werde, ging er unverzüglich, ohne dass Frau und Kinder darum wussten, von Hause fort und durchwanderte Berge und Täler, um einen Ort zu finden, der ihm genug unzugänglich, für die Volksmenge abgelegen und für ein Einsiedlerleben geeignet schien. Nachdem er einen solchen Ort nach seiner Wahl gefunden hatte, kehrte er heim, nahm Abschied von Weib und Kind, und bald wieder fortwandernd, liess er sich in jener Einsamkeit, die nicht weit von seiner Heimstätte lag, nieder. Seiner Ehfrau verbot er, fürderhin zu ihm zu kommen, einem seiner Söhne aber befahl er, ihm täglich Speise zu bringen. So Waldbruder geworden, fing er an, alle übrigen Tugenden aus der Nüchternheit zu schöpfen. Er wollte sich vor allem ans tägliche Fasten gewöhnen; nur einmal des Tages setzte er sich nieder, um sich an der notwendigen Speise zu erquicken, und indem er sogleich auch das Weintrinken aufgab, wurde er ganz Abstinent und Wassertrinker, er trank nur aus dem Bache, der aus den Bergen herab bei seiner Zelle vorbeifloss. Aber er war mit dem menschlichen täglichen Abbruch nicht zufrieden, und indem er den Versuch machte, über die menschlichen Kräfte hinauszugehen, begann er jede Woche einen Tag ganz ohne Nahrung zu bleiben, und als er sah, dass es ihm nach Wunsch gelinge, fügte er allmählich dem einen Fasttag einen zweiten, dem zweiten bald einen dritten hinzu. Er wollte dann auch erproben, ob ein noch vom Fleisch umgebener Mensch, auch wenn er vier Tage der Woche keine Speise ge niesse, leben könne. Durch die Probe erfuhr er, dass er dies ohne Lebensgefahr ertragen könnte. Darauf dehnte er die Strenge seines Fastens auf den fünften Tag aus, nach und nach fügte er den sechsten hinzu und blieb sechs Wochentage ohne Nahrung und endlich verschmähte er auch am siebenten Tage zu essen und verharrte die ganze Woche ungespeist. Belehrt, dass ihm die göttliche Hilfe keineswegs fehle, unternahm er, den Menschen und die menschlichen Kräfte gänzlich zu überschreiten und zu überwinden. Denn er verwandelte nicht nur mit Erfolg die Tage in Wochen, sondern die Wochen in Jahre. Er verharrte nicht nur ein Jahr, sondern alle Jahre seiner übrigen Lebensdauer ohne Speise. Darin auf Erden den Engeln gleich geworden, die nach der Schrift «weder essen noch trinken» (Tob 12,19), lehrte er uns, durch ein solches Beispiel die Wahrheit des geheimnisvollen heiligen Ausspruches begreifen: «Nicht vom Brote allein lebt der Mensch, sondern von jedem Worte, das aus dem Munde Gottes kommt.» (Dtn 8,3; Mt 4,4) Aber, auf dass er nicht völlig in seiner Leiblichkeit von den übrigen Sterblichen verschieden erscheine und eher für einen Engel als einen Menschen gehalten werden könne, liess Gott in seinem Fleische den Stachel irdischer Schwachheit zurück, damit er sich bewusst bleibe, noch ein Mensch und menschlicher Pflege bedürftig zu sein. Durch seine beständige Nahrungslosigkeit entstand eine solche Magenverderbung und er begann an solcher Kälte des Magens zu leiden, dass er gezwungen wurde, an Stelle innerlicher Ernährung, Magen und Brust täglich am Feuer eines Ofens [äusserlich] zu erwärmen. Diesen Ofen habe ich selber noch in seiner Zelle gesehen. Die Staatshäupter der Helvetier haben viele Tage lang die Wege, die zu seiner Zelle führten, besetzt [Wachen aufgestellt] gehalten, um in Wahrheit zu erfahren, ob er nicht etwa trügerisch das Volk hintergehe und durch heimlich zugeführte Speise von jemand ernährt werde. Sie fanden aber, dass er kein anderer sei, als ihn die gerechte Volksstimme beurteilte. Einmal kam der Bischof von Konstanz [bzw. Weihbischof von Konstanz] zu ihm, in der selben Absicht, ihn zu prüfen. Als er von diesem, als seinem geistlichen Vater, gefragt wurde, welches die erste und oberste Tugend sei, erwiderte der Einsiedler: «der Gehorsam». «Du hast recht geantwortet,» sagte der Bischof, «dass der Gehorsam die oberste Tugend sei, denn, nach der hl. Schrift, ist sie Gott angenehmer als Opfer. Ich befehle Dir also, als meinem geistlichen Sohne, ich, Dein geistlicher Vater, kraft dieser Tugend des Gehorsams, die Du allen andern vorziehst, diese drei Bissen Brotes, die ich Dir reiche, in meiner Gegenwart zu essen.» Der Eremit erwiderte: «Jeden Gehorsam schwöre ich Dir, mein Bischof, nach kirchlicher Vorschrift, zu leisten, aber Du musst wissen, dass ich, vom täglichen Fasten, beinahe aller zur Verdauung nötigen Wärme beraubt bin und die Speise, die Du mir bietest, nicht nur nicht verdauen, sondern, weil die Mündung des Magens verschlossen und verengt ist, auch nicht an jenen Ort der Verdauung, den Magen, einführen kann. Begnadige mich daher, dass ich nur einen der Bissen, in drei Stückchen zerteilt, essen muss.» Der Bischof liess sich durch die Bitten des Einsiedlers erweichen. Nachdem dieser also einen Bissen, in drei geteilt, genossen hatte, litt er volle vierzig Tage lang an grausamen, martervollen Magenschmerzen. Er genas aber und führte, durch göttliche Hilfe gekräftigt, seine gewohnte Enthaltsamkeit bis zu seinem Todestage, zweiundzwanzig Jahre lang, durch.
  
So weisst Du nun, aus dem Bericht uber das überirdische und unerhörte Leben dieses Eremiten, wer in unsern Tagen unter jenem Namen Nikolaus berühmt war und durch seine wahrhaft engelgleiche Lebensweise, nach meiner Überzeugung, unzweifelhaft zu den Choren der Engel hinaufgeführt wurde. Lebe wohl. Aus Paris, den 20. Oktober 1510.
  
    
c) [Brief an den Abt von Engelberg, Barnabas Bürki, 3. Juli 1510:]
  
Zu unserer Zeit aber lebte bei Euch jener gute Nikolaus von Flüe, der in der Einöde, die Deinem Engelberg nahe ist, zur grossen Verwunderung aller ein engelgleiches Leben führte, das die menschlichen Kräfte übersteigt, indem er 22 Jahre lang keine Speise genoss und keine Flüssigkeit trank (bis ihn der Tod hinwegnahm). Zum Besuch seiner Zelle haben wir uns, Du und Wolfgang von Matt und ich, miteinander auf den Weg gemacht, und die Einsamkeit des Ortes und das für den Frieden der Seelen förderliche Schweigen des tiefen Tales nötigten uns, einige Tage dort zu bleiben. Von dort kehrten wir nach Engelberg zurück und verbrachten, einmütig fleissiger Arbeit hingegeben, sechs Wochen lang in Deinem Kloster.
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Farbiges Bild: Der flämische Meister Gerard David (um 1460–1523, seit 1500 in Brügge tätig) gibt um 1506 Gottvater das Antlitz von Philipp dem Schönen, Philipp I. von Kastilien, Herzog von Burgund, Enkel von Karl dem Kühnen, flankiert von seinen beiden Söhnen und späteren Kaisern Karl V. und Ferdinand I. in Engelsgestalt.   • ganzes Bild
    
  
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