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Die Ethik von Bruder Klaus: christlich und sozial
Ist Bruder Klaus ein Vorbild für die christliche Ethik? – In der Ethik gibt es die Maxime: Bei allem, was du tust, achte auf die Folgen! Die Folgen für den christlichen Glauben ist das Endgericht, wie es Matthäus (Kapitel 25) beschreibt: «Denn ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und ihr habt mich bei euch aufgenommen; 36 ich war nackt und ihr habt mir etwas anzuziehen gegeben; ich war krank und ihr habt mich versorgt; ich war im Gefängnis und ihr habt mich besucht.» – Jesus stellt hier die Armen und Notleidenden dieser Erde dar als seine Brüder. Wer auch nur dem letzten und geringsten Brüder Jesu etwas Gutes tut, wird dafür eine grosse Belohnung erhalten. Diese Armen sind geradezu die Stellvertreter Jesu im konkreten Leben. Diese guten Taten werden auch allgemein «die leiblichen Werke der Barmherzigkeit genannt.» Gottesliebe, Selbstliebe und Nächstenliebe fallen hier in eins zusammen, keine der drei kann sich für sich allein in konsequenter Weise vollziehen.
Von der Belohnung für das gute Tun sprechen auch die Seligpreisungen Jesus in der Bergpredigt (Mt 5,3–11). Haben wir es hier mit acht verschiedenen Typen des christlichen Vorbilds zu tun, oder ist es letztlich nur ein Typus? Was unterscheidet die Barmherizgen von den Friedensstiftern (eirënepoioi, peacemaker), von den Anspruchslosen, von den Hungernden nach Gerechtigkeit, von den reinen Herzen? – Die Werke der Barmherzigkeit beginnen in der Seele als geistige Grundhaltung. Und jede christliche Grundhaltung mündet irgendwie aus im guten Tun gegenüber Gott und gegenüber den Mitmenschen. Insofern ist in den beiden Bibelpassagen eigentlich die ganze christliche Ethik zusammengefasst.
In der mittelalterlichen Spiritualität wurden bisweilen zwei Typen des geistlichen Lebens unterschieden: vita contemplativa (Betrachtung) und vita activa (soziale, caritative Tätigkeit). Aber eigentlich gibt es nicht beide getrennt voneinander sondern nur beide als eine einzige Einheit. Wie finden wir diese Einheit nun beim Eremiten Bruder Klaus? Wie kann ein Einsiedler sozial-karitativ tätig sein? Bruder Klaus wäre nicht der erste. Von der Eremitin Verena wurde gesagt, dass sie auch in der materiellen Nächstenliebe tätig war. Von Roman von Condat (Romain de Condat, geboren 333, später Abt und 450 Gründer des Klosters Romainmôtier) wird gesagt, dass er Kranke pflegte und auch sonst Bedürftigen half, obwohl er lange nur als Einsiedler lebte; spätere war er jedoch Mönch und Abt , zudem Gründer mehrerer Klöster, 450 der Abtei Romainmôtier (Waadt, das älteste Kloster auf heutigem Schweizerboden), in denen die Werke der Barmherzigkeit trotz kontemplativen Lebens nicht wegzudenken waren – dies noch bevor Benedikt als Einsiedler lebte und Klöster gründete. Die Legenda Aurea erzählt sogar, wie Roman dem Einsiedler Benedikt zu essen brachte; da er aber schon etwas betagt war, konnte er nicht zur Höhle Benedikts hinabsteigen, stattdessen liess Roman an einem Seil mit einem Glöckchen einen Korb herunter.
Bevor Niklaus von Flüe zum Bruder Klaus wurde, wurde er von einer grossen seelischen Unruhe geplagt. Erst die Betrachtung des Leidens Jesu brachte ihm die Heilung vom eigenen Leidensdruck. Davon berichten bereits die ältesten Quellen vom unbekannten Dominikaner (Quelle 005) und des Einsiedler Dekans Albrecht von Bonstetten (Quelle 015). Was genau brachte die Heilung? Das mental aktive Mitleiden. Dann wurde Niklaus zum Wall-Bruder – die Pilger redeten einander als «Bruder» an. Das Vorhaben scheiterte jedoch und aus dem Bauern wurde ein Einsiedler. Hatte er bereits als Kind die Gabe der Imagination – Bruder Klaus erlebte Visionen – so vermehrte sich sein Ansehen in dieser Beziehung rasant, weit über die Grenzen der Eidgenossenschaft hinaus.
Und er erkannte:
Die Barmherzigkeit ist die höchste Tugend.
Heinrich Wölflin (Quelle 072, §14) schildert in seiner 1501 veröffentlichten Biografie eine Vision von Bruder Klaus, worin ihm ein Pilger, bzw. ein Herr (senes) begegnet: «Von weitem sah er einen Herrn mit ehrwürdigem Aussehen entgegenkommen, der so liebliche Lieder sang, welche einstimmig begannen und sich dann in drei Stimmen kunstgerecht aufteilten und wieder in eine einzige Stimme zurückkehrten. Dies alles klang in seinen Ohren in so wundersüsser Harmonie. Im Geiste dies betrachtend, war er überzeugt, dass er durchss diese Erscheinung in einem schlichten Gleichnis über die ungeteilte, sich in drei wunderbar zusammenstimmenden Personen unterscheidende Gottheit belehrt wurde. Als der Greis näher trat, bat er um eine Gabe. Und nachdem er die Gabe von Niklaus empfangen hatte, verdankte er es ihm mit grösster Ehrerbietung. Doch plötzlich verschwand er. Dadurch wurde er noch mehr belehrt, dass nämlich von den Werken der Frömmigkeit die der Barmherzigkeit [im Originaltext, griechisch: elemosyna (ελεημοσύνη), das Erbarmens, das Mitleiden, die Barmherzigkeit – auch: Werke der Barmherzigkeit] den ersten Rang beanspruchen.» Caspar Ambühl (Quelle 068) schildert dies etwas anders: Der Pilger hält nach dem schönen Gesang dem Menschen den Hut entgegen. Plötzlich hat der Mensch einen Pfennig in der Hand, weiss aber nicht woher er ihn bekommen hat. Er gibt also an Gott nur das, was er bereits von ihm bekommen hat. Dies tun zu dürfen ist eine grosse Ehre. Das Mitleiden ist eine grosse Ehre. Diesem Mitleiden begegnen wir dann nochmals in der Vision vom Dankenden Gott-Vater, der Bruder Klaus dankt, weil er seinen Sohn in grösster Not aufgehoben und getragen hatte. Bezieht sich dieser Dank nur auf das aktive innere Mitgehen mit dem Leidensweg Jesu zum Kreuz, wie wir es in den 15 Passionsbetrachtungen (Quelle 055) finden? Oder ist hier nicht auch von einer Stellvertretung die Rede? Nach Art des Endgerichts im Matthäusevangelium?
Das Endgericht bei Matthäus finden wir im Literaturgut um Bruder Klaus thematisch breit ausgefaltet im sogenannten «Pilgertraktat» (Quelle 048). Die Werke der Barmherzigkeit sind die Schlüssel für die letzte Belohnung. Bruder Klaus besass in seiner Zelle ein Bild, in dem sechs Symbole auf diese Werke hinweisen. Dieses Bild sahen nur äusserst wenige Besucher, da er diese meistens im Freien empfing. Der anonyme Autor (höchstwahrscheinlich Heinrich Gundelfingen) des Traktats entwickelte nun eine wahre Theologie der Barmherzigkeit, deren Sinnspitze eine Art «Gesellschaftsvertrag» ist (Contrat Sozial, so lautet später auch eines der Hauptwerke von Jean-Jacques Rousseau). Der zweite Teil des Pilgetraktats behandelt in für damalige Zeiten geradezu revolutionärer Weise die soziale Gerechtigkeit, praktiziert in den Werken der Barmherzigkeit – sechs an der Zahl. Ein wichtiger Gedanke geht von einer Art Vertrag aus: Die Reiche müssen den Armen das Notwendigste geben, diese wiederum sind verpflichtet, für ihre Wohltäter zu beten; so werden diese «Armen» ihrerseits zu Wohltätern für die «Reichen». Dies kann auf andere Bereiche ausgedehnt werden: Die Mächtigen müssen den Bedürftigen, Ohnmächtigen helfen, dafür aber müssen diese für jene beten, wodurch sich ihre Ohnmacht und Hilflosigkeit verwandeln, und ihr Leben auf Erden einen Sinn bekommt – auch die Arme sind zu etwas nütze. Der Pilger sagt das so: «Wie geschieht es aber, dass ein Mensch mehr besitzt als ein anderer? Es geschieht durch den Willen Gottes, damit wir umso grössere Liebe zueinander haben und noch mehr gewinnen sollen. Der Arme gewinnt eine Liebe zu dir, wenn er durch deine Hand getröstet wird, und er ist es dir schuldig, dass er für dich beten muss. Desgleichen sollst du Gott danken, der es so will, dass der Arme gerade durch deine Hand gespeist wird. Tust du dies aber nicht und lässt den Armen Not leiden, so bist du vor dem göttlichen Spiegel ein Dieb, und dein Auge ist ein Hohn, denn du versagst dem Armen das, was ihm zusteht, und dies widerrechtlich und gegen die Liebe zu Gott und zum Nächsten. So haben dann deine Kinder ihren Besitz widerrechtlich in ihrer Gewalt. Darum spricht der Herr: Entfernt euch von diesem Gut, denn euer Vater hat mein ihm anvertrautes Amt untreu verwaltet (vgl. Dtn 5,9; 28,15ff.). So geschieht es denn oft, dass die Kinder zu Bettlern werden, Almosen nehmen müssen und dabei die Hartherzigkeit erfahren, die ihr Vater gegenüber den Armen geübt hat.» Der Einzelne kann nie sagen: Das Leben des «Nächsten» gehe ihn nichts an. Wo Menschen aufeinander angewiesen sind, wird das Leben zum Mittragen. – Der Autor macht die Stellvertretung Jesu auch geltend in der zweifachen Ebenbildlichkeit. Jesus ist das Ebenbild des Vaters, der Mensch an sich ist es nochmals. Wörtlich ist die Rede vom «Göttlichen Spiegel».
Bruder Klaus setzte sich bei seinen Besuchern immer für ein friedliches Zusammenleben der Menschen ein. Im politischen Bereich ging es unter anderem mehrmals um die Streitereien zwischen Obwalden und Luzern, aber auch um das Verhältnis der Städte zu ihren ländlichen Untertanen, dann auch zwischen dem immer mehr eskalierenden Kalten Krieg zwischen dem französischen Königen und den Herzögen von Mailand, aber auch um die Streitereien der oberitalienischen Städte untereinander. Bruder Klaus hatte den Ruf eines «Friedensstifters», sein Verhalten in dieser Beziehung erfüllte die Bedingung der Seligpreisung voll und ganz. Einsatz für den Frieden ist für Bruder Klaus ein Mitleiden, ein Werk der Barmherzigkeit. Das herausragende Engagement in seinem Eremitendasein ist aktives Mitleiden. Denn in der Tat, durch Erhalt des Friedens kann viel seelische und leibliche Not verhindert werden: Hungersnot, Krankheit, Flüchtlinge, ungeschuldig Gefangene usw.
Das Geheimnis für das christlich-soziale Engagement von Bruder Klaus ist seine Fähigkeit zur Imagination. Das aktive Mitleiden ist in ihm ein lebendiges Bilderleben. Um aktiv mitleiden zu können, um Barmherzigkeit leben zu können, muss man sich das Geschehen innerlich vorstellen können. Der Eremit im Ranft ist ein Visionär in allen Facetten der Bedeutung dieses Wortes.
Abbildung oben: Wandbild von Maurice Barraud im Bundesbriefarchiv Schwyz
… Mitte: «Kranke besuchen», Holzschnitt im Pilgertraktat
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